Dieser Beitrag enthält Empfehlungs-Links. Wenn du über diese etwas kaufst oder buchst, erhalte ich eine kleine Provision, ohne dass dabei Mehrkosten für dich entstehen. So kannst du meine Arbeit unkompliziert unterstützen. Vielen lieben Dank!
Im Februar 2024 ist das Buch „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ von Uwe Wittstock erschienen. Es erzählt die Geschichte eines Fluchthilfe-Netzwerks um Varian Fry, das etliche von den Nationalsozialisten bedrohte Kunstschaffende rettete. Dies ist eine Rezension.
Die 2. Flucht der Literatur 1940
Frankreich im Mai 1940: Die deutsche Wehrmacht löst mit ihrem Frankreichfeldzug eine riesige Massenflucht von 8 bis 10 Millionen Menschen aus.
Bisher galt das Land als das kulturelle und avantgardistische Zentrum Europas. Etliche Intellektuelle, Maler und Schriftsteller, die seit 1933 aus Deutschland und Österreich vor den Nationalsozialisten flüchten mussten, haben es für ihr Exil gewählt, hier eine neue Heimat gefunden.
Die meisten von ihnen sind Nazigegner, Juden oder beides. Unter ihnen sind Max Ernst, Heinrich Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Anna Seghers, Alfred Döblin oder Walter Mehring.
Nun bricht unter ihnen blankes Entsetzen aus. Ihr Schicksal holt sie wieder ein, wieder müssen sie fürchten, dass von einem Tag auf den anderen alles vorbei ist. Dass sie verhaftet, gefoltert und getötet werden. Wieder begeben sie sich völlig überstürzt auf eine Flucht.
Direkt nach Beginn der Kampfhandlungen werden alle in Frankreich befindlichen Deutschen und Österreicher, sowie dort geborene Staatenlose im Alter zwischen 17 und 55 Jahren aufgefordert, sich an Sammelpunkten zusammenzufinden.
Sie sollen in Internierungslager gesteckt werden, da Frankreich sie als potentielle Sympathisanten der Nationalsozialisten ansieht und Sabotageakte verhindern möchte. Wer nicht rechtzeitig untergetaucht ist, sitzt in diesen Lagern fest.
New York 1940: Die Gründung des Emergency Rescue Committee
In dieser Situation der totalen Hoffnungslosigkeit machen sich eine Hand voll Menschen auf, den Verfolgten bei ihrer Flucht zu helfen. In „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ erzählt Uwe Wittstock von ihnen.
Tragischer Held der wahren Geschichte ist der junge, aus New York stammende Journalist Varian Mackey Fry (1907-1967). Er hat an der Harvard-University studiert, eine goldene Zukunft vor sich und gilt als ausgesprochen talentiert.
Gerade hat er den renommierten Posten des Cheflektors der Foreign Policy Association, einer vermögenden Stiftung, die eine Buchreihe zu außenpolitischen Themen herausgibt, übernommen. Gleichzeitig ist Fry selbst als Publizist tätig.
Anstatt sich auf seine Karriere zu konzentrieren, verschreibt sich Fry den von den Nationalsozialisten bedrohten Menschen im fernen Europa.
Zusammen mit Paul Hagen, einem deutschen Journalisten und Psychoanalytiker, der eigentlich Karl Frank heißt und seit 1933 im Exil lebt, gründet er das Emergency Rescue Committee.
Die Hilfsorganisation soll Künstler und Intellektuelle, die sich in Frankreich auf der Flucht vor den Deutschen befinden, retten.
Die Gründung findet anlässlich einer Spendengala am 25. Juni 1940 im prunkvollen Hotel Commodore im New Yorker Viertel Manhattan statt. 200 geladene Gäste sind zugegen. Schon an jenem Abend kommen 3400 Dollar zusammen.
Varian Fry als tragischer Held
Allerdings ist Geld nicht das Hauptproblem vor dem sich die Retter sehen. Denn jene, die ihrer Hilfe bedürfen, befinden sich in einem vom Krieg erschütterten Land, in dem im wahrsten Sinne des Wortes das Chaos ausgebrochen ist.
Viele sind in Internierungslagern gefangen und jene, die noch frei sind, tun alles dafür, nicht gefunden zu werden.
Lange überlegen sie beim Emergency Rescue Committee in New York, wer die Fluchthilfe in Frankreich organisieren soll. In Ermangelung eines geeigneten Kandidaten entscheidet sich Varian Fry schließlich, selbst nach Europa zu fliegen.
Mitte August 1940 kommt er in Marseille an.
Marseille 1940: Chaos und Verzweiflung
Seit Kriegsbeginn ist die Stadt, die schon mit 900 000 Einwohner eine typische laute und überfüllte südeuropäische Großstadt ist, um eine halbe Millionen Menschen gewachsen. Die meisten sind vor den Nazis geflüchtet.
Denn seit dem Waffenstillstandsvertrag vom Juni 1940 ist Frankreich in 2 Zonen aufgeteilt und der Norden und ein schmaler Streifen entlang der Atlantikküste von den Deutschen besetzt.
Deshalb besitzt Marseille den einzigen Überseehafen des Landes, der nicht von den Deutschen kontrolliert wird. Alle die Frankreich verlassen wollen, weil sie von den Nazis bedroht werden, müssen durch Marseille.
Denn hier befinden sich die Konsulate der verschiedenen Länder. Nur wer ein Visum ergattern kann, hat eine reale Chance von einem anderen Land aufgenommen zu werden.
Der versperrte Weg in die Freiheit
Ein Visum ist untertrieben. Wenn man zu jenen gehört, die das unfassbare Glück haben ein Rescue Visum für die USA (oder ein anderes Land in Übersee) zu bekommen, ist das erst der Anfang.
Denn die einzigen Schiffe in Richtung Freiheit fahren in Lissabon ab. Wenn man tatsächlich eine Fahrkarte für eines dieser Schiffe ergattert hat, braucht man Transitvisa für Spanien und Portugal und wenn man legal reisen und den Zug nehmen möchte, auch ein Ausreisevisum für Frankreich.
Oft verbringen die Flüchtlinge tagelang in Schlangen vor den verschiedenen Botschaften. Häufig passiert es, dass das erste Dokument schon wieder abgelaufen ist, wenn es ihnen geglückt ist, das letzte endlich zu besorgen.
Außerdem finden in Marseille regelmäßig Polizeikontrollen statt und jeder ohne Pass oder Aufenthaltsgenehmigung wird festgenommen.
Im Grunde erscheint es hoffnungslos. Denn ein Land zu finden, das einen freiwillig aufnimmt, ist schon allein sehr schwierig. Für die USA zum Beispiel braucht man seit Juli 1940 das Emergency Rescue Visa.
Um es zu bekommen, benötigt man die Bürgschaft eines amerikanischen Staatsbürgers, ein Leumundszeugnis und den Nachweis, dass das eigene Leben bedroht ist.
Außerdem muss bei jedem Visaantrag erst ein Gremium entscheiden, ob der Flüchtende nicht vielleicht doch eine Gefahr für die Sicherheit der USA darstellt.
Wittstocks Marseille 1940 zelebriert Hoffnung und Menschlichkeit in Zeiten von Krieg und Vernichtung
Trotzdem: Mit akribischer Disziplin und einem Händchen für die Untergrundarbeit gelingt es dem Emergency Rescue Committee bis zum Sommer 1941 etwa tausend Menschen das Leben zu retten.
Die meisten werden zu Fuß von Frankreich über die Pyrenäen nach Spanien gebracht.
Angesichts der Bedrohung von Krieg und Vernichtung beweisen die Mitglieder des Komitees unglaubliche menschliche Größe.
Deshalb ist Uwe Wittstocks Marseille 1940 ein ausgesprochen positives Buch. Bei so viel Hoffnung verzeiht man dem Autor auch gerne, dass er sowohl bei der Auswahl seiner Quellen als auch in seiner Darstellung eine Tendenz zur (positiven) Einseitigkeit zeigt.
Denn angesichts des Abgrunds von Krieg und Massenmord berichtet Marseille 1940 von unzähligen, oft unmöglich erscheinenden und manchmal aberwitzigen Fluchtgeschichten, die glücklich enden.
Von Fluchthelfern, mit denen es das Schicksal nicht besser hätte meinen können, die eine steile Karriere oder ein Leben im Luxus vor sich haben, die aber all das riskieren, um Menschen, die sie nicht einmal kennen, zu helfen.
Marseille 1940 ist auch eine Liebeserklärung an Frankreich. Denn immer wieder handelt das Buch von den unbekannten Helden, Französinnen und Franzosen, die spontan, völlig selbstlos und oft nicht ohne sich selbst in Gefahr zu begeben, helfen.
Mal sind es Verantwortliche in Militär und Administration, mal völlig unbeteiligte Menschen, die unerwartet zur Hilfe kommen.
Viele dieser Geschichte wurden schon vorher aufgeschrieben. Aber so bewegend, dicht, und literarisch spannend wie Uwe Wittstock hat sie noch niemand erzählt.
Offenlegung: Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Verkäufen.